das coming out des Theater: Die Theaterwissenschaft sollte noch dazulernen

Im Lesen des Reader "Theater in queerem Alltag ..." ein Beitrag von Eike Wittrock über "Brühwarm und das schwule Theater der 1970er Jahre" tauchen viele diffuse Erinnerungen auf, denn Brühwarm war ein bekannter Begriff geworden in jenen Jahren, und wenn ich das "Blatt. Die Stadtzeitung für München" jener Zeit im Archiv durchblättern würde, käme sicher ein Gastspiel im Hinterhoftheater oder bei einem der anarchistischen Festivals mit 80.000 in den Kiesgruben von Porta Westfalica "umsonst und draußen" daher: 

Auch mit englischen Tunten und dem Frankfurter Fronttheater..
Es zog sich als neues Thema durch die Szenen und so etliches wurde so gespielt dass wir untereinander Bescheid wussten.

Die Codes in dieser Zeit waren einfacher, Andeutungen reichten. Die gesamte verklemmte Gesellschaft hatte sich damit beholfen und nun reichte eine Geste.

Der Unterschied war, dass es nicht wie in den bürgerlichen Komödien zu Lasten der Beteiligten ging  sondern dass offen und deutlich gelacht wurde, wenn die anderen sich falsch verhielten. http://www.neofelis-verlag.de

Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre

Ein Buch, das aus der 2022 aktuellen Aktion von Schauspielenden, dem #actout-Manifest im Magazin der Süddeutschen Zeitung zurückblickt in die Entwicklung der freien und politischen Gruppen, die mit Theater im lesbischen und schwulen Umfeld wirksam waren: Nach Stonewall in NY und der Abschaffung des §175 im Jahr 1969 in der BRD.

Allen Älteren und manchen Jungen fallen Filme und Theaterstücke mit schwulen Anspielungen oder Rollen ein, Diskussionen um Stars und ihr Coming out, aber im richtigen Leben?

Komödien durften immer mit Andeutungen spielen, aber eine positive Rolle gab es kaum. Und nun direkt in der Szene: Ja, es war sehr mutig, erscheint es heute noch, offen und in einem Bühnen-Rahmen doppelt gewagt: Es gibt überraschend viele Beispiele hier, und regt zum weiter Forschen an:

Das Coming out des Theater

Die Entwicklung vor allem auch der lesbischen Szenen in den größeren Städten der BRD, der schwulen Gruppen in Westberlin und auch der DDR, der Literatur und des Tanz und vieler Hintergründe, wie sie bei einer Tagung 2019 im Schwulen Museum Berlin aus einigen Archiven zusammen getragen wurden, auch mit Blick auf die Lücken:

Im riesigen Kellerraum eines Schuhgeschäftes des „Verein für sexuelle Gleichberechtigung VSG“ München gab es noch 1978 eine selbst gebaute Bühne, aber keine Stücke mehr, wohl aber rauschende Faschingsfeste, und ich habe noch nicht erfahren können, wer dort damals und was inszeniert hatte, oder ob sie nur den Tunten-Playback-Gesängen diente, die es noch gelegentlich heute gibt, nun als Drag bezeichnet.

Jenny Schrödl, Eike Wittrock (Hg.):
Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre

Neofelis Verlag Kuglerstr. 59, 10439 Berlin http://www.neofelis-verlag.de- bald in 2. Auflage!

Persönliche Beschreibungen und theaterwissenschaftliche Studien wechseln sich in den dicken Sammelband ab, machen deutlich, wie wenig in der damals gegenwärtigen Situation des ermutigenden Auftretens an die Dokumentation gedacht wurde, vielleicht fotografiert und gefilmt von Anderen, die aber bisher zu wenig dazu beitragen: Wo sind die Erinnerungen gelandet?

Nach der Einordnung der Herausgebenden Jenny Schrödl und Eike Wittrock über „Das Theater mit der Identität“ mit ausführlichen Quellen startet das Buch in

Die Frauenbewegung und ihre Lesben

Mit einem Beitrag von Elke Träger: Unterste Stufe beginnt die Einordnung 1970 zwischen ersten Frauentreffen, FrauenLesbenzentren und -Buchläden, Frauenfesten und Öffentlichkeitsarbeit. Mit einer Revue starteten sie mit Tanz und Theater-Szenen, Text-veränderten Schlagern und Publikums-Animation, dann folgt ein Stück „Überall“ über die verschiedenen Strömungen in der FrauenLesben-Bewegung.

Jenny Schrödl springt mit ihrem Beitrag zum Ende der 1970er Jahre: „Zerren wir weiter an diesem Leichentuch des Patriarchats und entdecken wir Stück für Stück unsere wahre Geschichte“ Lesbentheater in der Bundesrepublik Ende der 1970er Jahre und gibt einen Überblick über die inzwischen entstandenen Gruppen, Verlage und Zentren, und plädiert für eine eigene Kategorie des Lesbentheater in der Theaterwissenschaft, die diese eigenständigen nicht-professionellen Arten und Bewegungen bisher nicht beachtete, ähnlich den Stadtbühnen-fernen Spielweisen der Festivals, Straßentheater und Formen von Kunst-Performances und politischen Wegen wie Armes Theater und politischer Darstellungsformen.

Renate Klett im Gespräch mit Eike Wittrock:
1. Internationales Frauentheater-Festival in Köln 1980

Hier kommt der Stadttheater-Betrieb in’s Geschehen: Ein internationales Festival als riesiger Erfolg, mitten in den (männlich dominierten) Theaterkrisen … im Schauspiel Köln!

Der große ausverkaufte internationale Erfolg des Festivals ließ sich leider nicht direkt fortsetzen, die großen Theater blieben lieber bei den Autoren-Stücken, manche bis heute.

Kaltes klares Wasser

Katharina Rost schreibt über Punk-Garçonne und S/M-Butch: Malaria! zwischen Punk, Frauenbewegung und Lesbenkultur: 1982

Kaltes klares Wasser hieß der bekannteste Song der Band Malaria! rund um das Kult-Zentrum SO36 in Berlin, die mit ihrem Auftreten die Szene-Erscheinungen veränderten: "Kämpferisch stark, hart, dunkel, martialisch, brutal" ... auf "politisch (und identitär) nicht eindeutig lesbare Figuren oder Gruppen in die Theater- und Bewegungsgeschichte (zurück) geführt." Elektronisch und basslastig setzen sie neue Richtungen.

Gabriele Stötzer im Gespräch mit Kata Krasznahorkai „Schiefe Kunst“
Queerness, Performance, Film und die Stasi in der Kunst

„Schiefe Kunst“ war in der DDR eine umschreibung für das, was die STASI nicht verstand: Frauen mit neuen Ausdrucksmitteln zwischen den Begriffen der Verwaltung: Gemeinschaftliche Frauenarbeit war nicht einzuordnen, aber eine "Staatsverleumdung", die im Knast fortbildete: Performances, mit Schafwolle und gelegentlich gestrickt, Community und nackte Körper ... Deckname Toxin!

„Die Unterseite der Dinge sichtbar machen“
Sigrid Grajek im Gespräch mit Jenny Schrödl

Eine spannende, fast auch typische Biografie von Nordrhein-Westfalen mit Coming out 1983 in Berlin: als Schauspielerin und an Theatern, mit eigenem Programm zu Claire Waldorff "... ich will aber grade vom Leben singen!"

Markues We’re in this together

Das Cabaret CHEZ NOUS steht für die vielen Travestie-Bühnen im Land, von 1958 bis 2008 in Berlin-Charlottenburg ist auch mit vielen Fotos und einer archivierten Website zu erleben.

„lecken lecken…“ 

Queerer Spoken Word im West-Berlin der 1970er und 1980er Jahre: Jayrôme C. Robinet: Auch diese Ausdrucksform konnte die sinnliche Erfahrung verarbeiten und in offenen Szenen zur Sprache bringen, was bis dahin fast unaussprechlich war.

Sexualitäten machen Leute

Lea-Sophie Schiel und JohJac Kamermans: Die Kunst der Johanna Kamermans bewegte sich extrem zwischen den Geschlechterrollen, von Ingenieur und Stripperin: "Champagner für die Transfrau!"

Der Rosa Winkel in der Protestinszenierung der Homosexuellen Aktion Westberlin

Dorna Safaian zeichnet von den "Roten Anfängen" der HAW 1971 über den "Tuntenstreit" bei der Pfingstdemonstration 1973 und die Feministinnengruppe zum "Rosa Winkel" viele Diskussionen nach, das Zeichen zur Protestaktion zu nutzen.  

Paulines Hammer 

Simon Schultz beginnt "Die Wirkung des schwulgewordenen Theaters in Hamburg um 1980" die Bilder in einer Mandarinenkiste: Er schreibt vom Künstlerduo DüMadissima bis zu Corny Littmann und das Ödipus-Kollektiv die Keller- & Theaterszenen der Stadt und ihre Entwicklung zwischen Spiegel-Affaire und den Rosa Listen der Polizei.

II. Homo-Programm 1999 

Peter Rausch berichtet über die DDR 1973-1979  von der Homesexuellen Interessengemeinschaft Berlin: Hibaré – das Kabarett der HIB und ihre Szenen, auch mit zahlreichen Bildern.

Brühwarm und das schwule Theater der 1970er Jahre

Eike Wittrock beginnt den Beitrag über das Das Coming-out des Theaters mit einem Text von TonSteineScherben: Von den Vorgeschichten bis zu "1976 - ein besonders schwules Theaterjahr" als Geburtsjahr bis zu "Männercharme"

mann tanzt 

Kirsten Maar blickt als Dramaturgin 2014 zurück: Sie beschließt mit Schwule Männlichkeit in der Tanzfabrik im West-Berlin der 1980er Jahre den Band, mit zahlreichen eingebetteten Beispielen aus den Zeiten und Entwicklungen: "Dinge, die Männer miteinander tun" bis Aids, Ästhetik, Queerness - in sehr persönlichen Reflektionen - dann folgt noch das reichhaltige Abbildungsverzeichnis.

Ein wirklich eindringliches Werk, das mir viele Erinnerungen und Fragen bringt … und das auch ein eindringlicher Appell an die Theaterwissenschaften ist, sich mit dieser Leerstelle endlich genauer zu beschäftigen, einschließlich den „Zwischenlösungen“ der Bühnen, einerseits die frühe Heimat der noch verfolgten Schwulen zu sein, andererseits alle volkstümlichen Umschreibungen zu pflegen, bis das Thema nicht mehr heiß genug war.

Nachbemerkung:
Die Lebenssituationen der queeren Gruppen in den 1970er Jahren (als wir das Wort noch gar nicht benutzten) waren großstädtisch spontan und meist im Rhythmus der Entwicklungen kurzlebig, auch in München meist nur intern und für Freunde zugänglich.

Daneben gab es eine breite Palette kulturellen Schaffens an der Grenze: „Crisperanto“ war ein professionelles Programm, und mit „schweinischen Liedern, mit dem der Schauspieler Thomas Kylau durch die verschiedensten Städte zog, durchaus in größeren Häusern, die den Mut dazu hatten, ihn einzuladen. Dazwischen gab es viele Filmreihen wie zu Pier Paolo Pasolini, Lesungen diverser Schriftsteller, entsprechendes sicher auch in der lesbischen und Frauen-Szene.

Die Texte sind ein erster Anfang und spiegeln doch schon eine riesige Bandbreite des großstädtischen Lebens in West und Ost in den beiden Jahrzehnten wider, die von der Theaterwissenschaft bisher nicht bearbeitet wurden: Die Lesben- und Frauenbewegung in Festen und Treffen, Ängste und Mut zur internen Bühne oder gar zu öffentlichen Auftritten, als die Ablehnung anderer Lebensformen noch gesellschaftlicher Konsens schien.

Manchmal war mir der Blick auf die kulturelle Entwicklung in der umgebenden Zeit zu knapp, zwischen dem Musical Hair und ähnlichen Bühnen-Erfahrungen wie „Frühlings Erwachen“, und die „Jeans“ in "Die neuen Leiden des jungen W."von Plenzdorf, deren Andeutungen oder Besetzungen damals schon Offenbarungen waren …


https://neofelis-verlag.de/media/pdf/2b/dd/c7/Schroedl-Wittrock_Theater-in-queerem-Alltag_Leseprobe_Aufl-2.pdf


Die Siegessäule meint dazu:

Eine (fast) vergessene Theatergeschichte fasst der Band „Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre“ zusammen. Das prallvolle Buch zeigt, wie „schwules Theater, Lesbentheater, weiblicher Punk, schiefe Kunst und Cabaret“ die LGBTIQ*-Kultur geprägt haben. Unmöglich, alle Projekte zu nennen, die hier vereint sind. Ein großes Verdienst der Herausgeber*innen ist, dass sie der Geschichte der Performancekunst aus der DDR und der BRD Raum geben. Ein Beispiel Ost ist etwa die Performerin und Kunstforschende Kata Krasznahorkai im Gespräch über „Queerness, Performance, Film und die Stasi in der Kunst“. Als Gegenstück sei das Interview mit Sigrid Grajek über deren jahrzehntelanges Schaffen genannt: „Die Unterseite der Dinge sichtbar machen“. Selbstverständlich fehlt auch die Hamburger Truppe Brühwarm nicht, aber auch ausführliches Material über Hibaré – das Kabarett der HIB (Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin) – gibt es zu endecken. fh https://cdn.siegessaeule.de/documents/sis_02_22.pdf
Jenny Schrödl, Eike Wittrock: „Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre“, Neofelis, 300 Seiten, 26 Euro

Eine der langjährigen Umschreibungen braucht noch Forschung: Thomas Kylau, in vielen Filmen und Theaterstücken erfolgreich, war viele Jahre mit seinem Programm „Crisperanto“ zu Quentin Crisp auf Bühnen und Theatern in vielen Städten und auch mit seinen „schweinischen Liedern“ unterwegs, aber eine Trauerfeier war wegen Corona nicht möglich … und jetzt fehlen die Quellen. Er hatte in Lübeck am Theater begonnen, noch Anzeigen und Anklage erlebt, und im Forum Queeres München müsste es noch Aufzeichnungen eines Biografie-Gespräches geben …

… und nur in der Einführung wird erwähnt, dass es auch eine theaterpädagogische Szene gab, in der wie im Forumtheater nach Augusto Boal die Tabus (und damit auch alle Themen der abweichenden Lebensformen und Orientierungen) zur Methode der Szenen-Entwicklung gehört, das Theater der Unterdrückten auch vor ein großes Publikum zu bekommen, wie bei der „Nacht der Solidarität“ der Basisgruppen beim Katholikentag in München 1984 in der ausverkauften Olympiahalle mit einer Szenenreihe der Gruppe „Homosexuelle und Kirche“ im Stück „Hans kommt raus“, und sicher vielen ähnlichen öffentlichen und Straßen-Aktionen mit Gruppen wie „Kirche von unten“.

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